Elvira Herzogs Weg in die Fussstapfen von Gaëlle Thalmann
Das Leben einer Torhüterin ist bisweilen undankbar. Macht sie einen Fehler, kann das nicht nur entscheidend negativen Einfluss auf eine Partie haben, sondern es brennt sich auch in Sekundenschnelle ins kollektive Gedächtnis der Fans ein. Jeder umsichtig eingeleitete Angriff, jede souverän abgefangene Flanke, jede erfolgreiche Parade - all dies geht schnell vergessen im Schatten eines wegweisenden Missgeschicks.
Elvira Herzog kennt das. Viel besser, als es sich die 24-Jährige manchmal wünschen würde. Denn in ihrer Karriere als Torhüterin ist ihr das schon mehrmals passiert. Die Zürcherin sitzt am Dienstagnachmittag im Hotel in Pfäffikon, wo sie sich mit dem Schweizer Nationalteam auf die letzten beiden Testspiele des Jahres am Freitag (20.00 Uhr) im Zürcher Letzigrund gegen Deutschland und am Dienstag (20.45 Uhr) in Sheffield gegen Europameister England vorbereitet.
Voller Vorfreude sei sie, sagt Herzog, sich nach der Partie gegen Australien (1:1) und dem Coup gegen Frankreich (2:1) wieder mit zwei Top-Nationen messen zu können. Aber natürlich schwenkt das Gespräch irgendwann in die Vergangenheit.
Nielsens Fehleinschätzung
Seit ihrem Debüt im Nationalteam gegen Serbien sind fünfeinhalb Jahre vergangen, danach muss sie meistens hinter der unbestrittenen Nummer 1 Gaëlle Thalmann anstehen und auf ihre Bewährungschancen warten. Wie im Dezember 2020, als Thalmann für das entscheidende Spiel der EM-Qualifikation gegen Belgien aufgrund einer Corona-Infektion ausfällt und der damalige Nationaltrainer Nils Nielsen etwas überraschend Herzog das Vertrauen schenkte. Wegen ihrer Sicherheit bei Flanken, sagt der Däne damals. Und muss sich nachher erklären, weshalb der jungen Torhüterin bei ebensolchen Hereingaben zwei Fehler unterlaufen sind, die zu Gegentoren führten und der Schweiz nach einem desolaten Auftritt (0:4) den Umweg über die Playoffs bescherten.
Damals können sich wohl nicht einmal kühnste Optimisten vorstellen, dass Herzog dereinst in die Fussstapfen Thalmanns treten würde. Für die WM 2023 in Neuseeland und Australien wird sie von Inka Grings und ihrem Staff nicht aufgeboten, scheint abgeschrieben. Danach steht sie zwar ab und zu auf dem Feld, manchmal erhalten aber auch die mittlerweile zurückgetretene Seraina Friedli oder Livia Peng das Vertrauen.
Erst als Pia Sundhage im Januar dieses Jahres das Amt als Nationaltrainerin übernimmt, wird Herzog wieder fester Bestandteil des Goalie-Trios - und sie kann bei ihrem ersten Einsatz gegen Polen (4:1) bei der schwedischen Trainerin gleich Pluspunkte sammeln, indem sie einen Penalty pariert. Damals will sich die Sundhage mit ihrem Team nicht auf eine fixe Stammkraft im Tor festlegen. Auch Livia Peng soll ihre Chance erhalten, sich zu beweisen, und durch den Konkurrenzkampf sollen beide Goalies zu besseren Leistungen angespornt werden.
Angerers Lob
Nun, seit etwa einem Monat, weiss Elvira Herzog, dass sie sich vorerst durchgesetzt hat und von Sundhage und dem Duo der Goalietrainerinnen Nadine Angerer und Patricia Gsell die Rolle als Stammtorhüterin anvertraut bekommt. «Es gibt gar kein Mass, das abbilden könnte, wie glücklich ich darüber bin», sagt Herzog, die ihre Karriere einst beim Zürcher Quartierverein FC Unterstrass lancierte und seit fünf Jahren in der deutschen Bundesliga engagiert ist - seit Sommer 2022 in Leipzig. «Das ist die grösste Ehre für mich», sagt sie zum Nummer-1-Status.
Am Ende des letzten Zusammenzugs hätten die Goalietrainerinnen das Gespräch gesucht und ihr die frohe Kunde überbracht. Ein Gespräch, das, wie Angerer verrät, Herzog erst einmal sprachlos werden liess vor Freude und Überraschung. Doch für die frühere Weltklassetorhüterin, die seit März im SFV tätig ist, ist die Ernennung Herzogs zur Nummer 1 keine Überraschung, sondern vielmehr eine logische Konsequenz aus den Leistungen der letzten Monate. «Elvira hat in letzter Zeit grosse Fortschritte gemacht, gerade auch was ihre Führungsqualitäten angeht», sagt Angerer, die für Deutschland 146 Länderspiele bestritt, zweimal Welt- und fünfmal Europameisterin geworden ist.
«Elvira hat eine super Präsenz im Strafraum, und sie coacht das Team sehr gut von hinten», sagt Angerer. "Das war ein entscheidender Punkt. Das Team fühlt sich wohl mit Elvira.”
Der 46-Jährigen ist wichtig zu betonen, dass die Stimmung innerhalb des Torhüterteams mit Herzog, Peng und Nadine Böhi sehr gut sei, dass sich alle gegenseitig unterstützen und fördern würden. Im Hinblick auf die Heim-EM im Sommer sei aber wichtig gewesen, die Hierarchie festzulegen, damit sich alle an ihre Rolle gewöhnen und darin wachsen könnten. Schliesslich hätten die Torhüterinnen gerade einmal 15 (Herzog), 7 (Peng) und 0 (Böhi) Länderspiele bestritten.
Herzogs Nummernwechsel
Auch die Deutsche musste merken, dass in Zusammenhang mit Herzog gern über frühere Fehler gesprochen wird, was sie etwas irritierte. Deshalb will auch sie zu einem Kulturwandel beitragen, in dem der Blick mehr nach vorne und auf Positives gerichtet wird.
Wie das Stadion Letzigrund, das nach der Rekordkulisse im Oktober gegen Australien am Freitag erneut sehr gut besucht sein und Elvira Herzogs Feuertaufe als Nummer 1 einen würdigen Rahmen bescheren wird. Herzog, die sowohl bei Leipzig als auch im Nationalteam auf die Unterstützung von Mentaltrainern zählen kann, sagt: «Ich will beweisen, dass ich diesen Platz verdient habe.»
Auf dem Rücken wird sie noch die 21 tragen, aber spätestens im Sommer soll auch auf dem Trikot die 1 stehen.