Eine heikle wie reizvolle Aufgabe bei den «Fohlen»
Captain Lars Stindl: In seine Heimat zum Karlsruher SC. Penaltyschütze Ramy Bensebaini: zu Ligakonkurrent Borussia Dortmund. Toptorschütze Marcus Thuram: zu Inter Mailand. Topvorbereiter Jonas Hofmann: zum rheinischen Nachbarn Bayer Leverkusen. Binnen weniger Wochen verlor Borussia Mönchengladbach für insgesamt läppische 10 Millionen Euro nicht nur vier Leistungsträger, sondern auch seine besten vier Torschützen. 39 Tore hat das Quartett in der letzten Bundesliga-Saison erzielt und war damit für drei Viertel aller Treffer der Gladbacher verantwortlich.
Die «grosse Motivation» und die «reizvolle Aufgabe»
Die Lücke schliessen sollen die Neuzugänge Tomas Cvancara, Franck Honorat, Robin Hack und Maximilian Wöber, vor allem aber ruhen die Hoffnungen auf Gerardo Seoane. Die Verantwortlichen von Borussia Mönchengladbach halten grosse Stücke auf den neuen Schweizer Trainer. Doch wieso zieht es einen wie ihn, der mit den Young Boys in drei Jahren vier Titel gewann und mit Bayer Leverkusen in der Champions League spielte, an den Niederrhein? Zu einem Traditionsklub, keine Frage. Zu einem Verein aber auch, der in den letzten Jahren zunehmend mit Problemen zu kämpfen hatte und zuletzt mit zwei 10. Plätzen zu einer grauen Maus verkommen ist.
«Als die Anfrage von Borussia kam, spürte ich grosse Motivation für diese Aufgabe. Die Bundesliga ist ein Top-Wettbewerb und Borussia ein Verein mit einer grossen Historie und einer unglaublichen Anhängerschaft. Hier etwas zu entwickeln ist eine extrem reizvolle Aufgabe», sagt Seoane gegenüber Keystone-SDA. Doch wie will der 44-Jährige mit einer qualitativ schwächeren Mannschaft den Turnaround schaffen? Der gewiefte Kommunikator lässt sich nicht auf die Äste raus, sagt, man dürfe in Anbetracht der Situation, in der sich Gladbach befinde, nicht blauäugig sein. «Wichtig wird das Auftreten. Einstellung und Leidenschaft müssen immer bei hundert Prozent sein. Wenn uns das möglichst oft gelingt, dann haben wir unabhängig vom Tabellenplatz schon viel erreicht.»
Der steile Aufstieg und der abrupte Absturz
Bis letzten Sommer kannte die Trainerkarriere des Gerardo Seoane nur eine Richtung. Nach oben. Schritt für Schritt, wohlüberlegt. Nach nur einem halben Jahr und 17 Spielen für seinen Heimatklub FC Luzern folgte der junge Trainer dem Lockruf aus Bern. Mit YB holte er drei Meistertitel in Serie und einmal den Cup. Dies weckte Begehrlichkeiten im Ausland. Seoane, der sechs Sprachen fliessend spricht, entschied sich für Deutschland. In Leverkusen fand er ein Kader vor, das auf ihn zugeschnitten war. Hochtalentierte Spieler, die in der Vorwärtsbewegung ihre Stärke haben. Die teils spektakulären Auftritte mündeten in einem 3. Platz und der Champions League.
«Es war kein Zufall oder Glück, dass er gleich reüssiert hat», sagt Remo Meyer. Der Sportchef des FC Luzern arbeitete bei den Innerschweizern mit Seoane zusammen und beförderte diesen 2018 von der U21 in die 1. Mannschaft. «Gerry war sieben Jahre in unserer Nachwuchsabteilung und hat sich in dieser Zeit alles in den Rucksack gepackt, was es für eine erfolgreiche Trainerkarriere braucht. Er hat sich sehr gut vorbereitet. Die Geduld hat sich ausbezahlt.»
Trotz zahlreicher Werkzeuge, einer scheinbar intakten Mannschaft und grossen Ambitionen folgte in der zweiten Saison bei Bayer Leverkusen ein völlig überraschender Absturz, an dessen Ende Seoane entlassen wurde - zum ersten Mal in seiner Karriere.
Nach der Cup-Gala folgt der Liga-Alltag
Acht Monate später sitzt er rund 40 km nordwestlich von Leverkusen topmotiviert und mit neuem Elan im Presseraum von Borussia Mönchengladbach und stellt sich den Fragen der Journalisten. Auf der Brust prangt die schwarz-weisse Raute mit dem grossen «B». Fünfmal wurde die «Elf vom Niederrhein» deutscher Meister, zuletzt 1977 mit Jupp Heynckes, Uli Stielike und Berti Vogts. Heute heissen die Führungsspieler Jonas Omlin, Julian Weigl und Nico Elvedi, wobei Letzterer nach acht Jahren bei der Borussia mit Abwanderungsgedanken spielt. Es wäre ein weiterer Pfeiler, der Seoane wegbrechen würde.
«Ich wusste, welche Situation mich erwartet und darin liegt ja auch ein grosser Reiz. Ich habe mich daher sehr bewusst für diese Aufgabe entschieden», sagt der Schweizer, der auch den spanischen Pass besitzt. Von Angst, in Deutschland verbrannt zu sein, sollte es in Gladbach nicht wie gewünscht funktionieren, will Seoane nichts wissen. «Ich konzentriere mich ausschliesslich auf die Dinge, die ich beeinflussen kann. Und diese Dinge gehe ich positiv an.»
Positiv fiel auch das erste Pflichtspiel unter Seoane aus. Am vergangenen Freitag siegte sein Team in der 1. Cuprunde beim fünftklassigen Bersenbrück 7:0, wobei sich der Bundesligist zu Beginn schwertat. «Insgesamt nicht ganz zufrieden» war denn auch Seoane. Der erste Gradmesser folgt am Samstag zum Auftakt der neuen Bundesliga-Saison, mit dem Auswärtsspiel in Augsburg. Bei den Augsburgern gab es zuletzt nichts zu holen für Gladbach. Der letzte Sieg datiert von Anfang 2020. Damals trafen Lars Stindl und Ramy Bensebaini. Nun müssen es andere Spieler richten.