Künftiger Präsident: Ultraliberaler Milei will Argentinien umkrempeln
Der Kandidat der Partei La Libertad Avanza (Die Freiheit schreitet voran) lag nach der Stichwahl mit 55,69 Prozent deutlich vor Wirtschaftsminister Sergio Massa von der linken Unión por la Patria (Union für das Vaterland) mit 44,30 Prozent, wie das Wahlamt am Montag mitteilte. Sein neues Amt wird er am 10. Dezember antreten. Vor allem der Frust vieler Argentinier über die Dauerkrise und die Wut auf das politische Establishment dürften dem Aussenseiter Milei zum Wahlsieg verholfen haben.
Inmitten einer schweren Wirtschaftskrise verspricht er einen Kurswechsel: Er will den US-Dollar als gesetzliches Zahlungsmittel einführen, die Zentralbank sowie viele Ministerien abschaffen und die Sozialausgaben kürzen. «Niemand mit so extremen Ansichten in Wirtschaftsfragen ist je zum Präsidenten eines südamerikanischen Landes gewählt worden», sagte der Ökonom Mark Weisbrot vom US-Forschungsinstitut Center for Economic and Policy Research. «Er erkennt kaum eine legitime Rolle der Regierung in einigen der wichtigsten Politikbereiche an, die die meisten Menschen als notwendig für eine demokratische, humane und stabile Gesellschaft ansehen.»
Gleich am Montag kündigte Milei die Privatisierung von Staatsbetrieben an. «Alles, was in den Händen des privaten Sektors sein kann, wird in den Händen des privaten Sektors sein», sagte er. Unter anderem will Milei den staatlichen Energiekonzern YPF, das öffentliche Fernsehen und Radio sowie die amtliche Nachrichtenagentur Télam privatisieren.
«Die ersten Ankündigungen von Mileis Politik werden die Märkte erfreuen, wobei eine aggressive Haushaltskonsolidierung und die Abschaffung von Devisen- und Kapitalverkehrskontrollen die grössten Prioritäten darstellen», sagte der Portfoliomanager beim Schweizer Vermögensverwalter Vontobel, Thierry Larose. Tatsächlich reagierten die Finanzmärkte positiv auf das Wahlergebnis. Die Aktien argentinischer Unternehmen an der New Yorker Börse stiegen zwischenzeitlich um 23 Prozent, Staatsanleihen um 6 Prozent.
Milei gilt als Exzentriker, der die argentinische Politik ordentlich aufgemischt hat: Er will den Waffenbesitz liberalisieren, ist gegen das Recht auf Abtreibung, glaubt nicht an den menschengemachten Klimawandel und schimpft den argentinischen Papst Franziskus einen Kommunisten. Zwar bedient er sich wie der ehemalige US-Präsident Donald Trump und der frühere brasilianische Staatschef Jair Bolsonaro einer Anti-System-Rhetorik, allerdings verzichtet er im Gegensatz zu seinen Vorbildern auf rechtsradikale Ausfälle und befürwortet etwa die gleichgeschlechtliche Ehe.
Seine künftige Vizepräsidentin Victoria Villarruel hingegen bedient das konservative Klientel, pflegt Kontakte zu rechten Gruppierungen auf der ganzen Welt und provoziert immer wieder mit Äusserungen über die Militärjunta (1976-1983). Die Tochter eines Offiziers zieht die von Menschenrechtsorganisationen auf 30 000 geschätzte Zahl der Todesopfer während der Diktatur in Zweifel und pocht ihrerseits auf mehr Anerkennung für die Opfer linker Guerillagruppen.
Die zweitgrösste Volkswirtschaft Südamerikas steckt in einer tiefen Wirtschaftskrise. Die Inflationsrate liegt bei über 140 Prozent, rund 40 Prozent der Menschen in dem einst reichen Land leben unterhalb der Armutsgrenze. Argentinien leidet unter einem aufgeblähten Staatsapparat, geringer Produktivität der Industrie und einer grossen Schattenwirtschaft, die dem Staat viele Steuereinnahmen entzieht. Die Landeswährung Peso verliert gegenüber dem US-Dollar immer weiter an Wert, der Schuldenberg wächst ständig.
Auf dem globalen Parkett dürfte der Wahlsieg des international unerfahrenen Milei zunächst für Unsicherheit sorgen. Im Wahlkampf hatte er angekündigt, die Beziehungen zu den beiden wichtigsten Handelspartnern China und Brasilien aus ideologischen Gründen abbrechen zu wollen. Ausgerechnet China streckte ihm jetzt aber die Hand aus. «China hat der Entwicklung der chinesisch-argentinischen Beziehungen aus strategischer und langfristiger Sicht immer grosse Wichtigkeit beigemessen», sagte Aussenamtssprecherin Mao Ning. China sei bereit, die Win-Win-Kooperation der beiden Länder wiederzubeleben.
Bundesagrarminister Cem Özdemir sah nach Mileis Wahlsieg hingegen Schwierigkeiten für das Handelsabkommen zwischen der EU und dem südamerikanischen Wirtschaftsbündnis Mercosur. «Es wird nicht leichter, das Umfeld wird schwieriger», sagte der Grünen-Politiker in Brüssel. Die Wahl zeige, dass man sich beeilen müsse, Populismus werde «dort wie bei uns» stärker.
Bei aller radikaler Rhetorik gehen viele Beobachter davon aus, dass Milei viele seiner Forderungen gar nicht im vollen Umfang umsetzen kann. Im Parlament hat er keine Mehrheit, sein Lager stellt keinen einzigen Provinzgouverneur, zudem fehlt ihm qualifiziertes Personal, um wichtige Schlüsselpositionen zu besetzen. Zuletzt mässigte er sich bereits etwas im Ton und nahm Kontakt zu den traditionellen konservativen Kräften im Land auf, um die Lücken zu stopfen.
Legt er wirklich die Axt an die Sozialprogramme, von denen viele Argentinier abhängen, kann der politische Gegner ihm das Leben aber richtig schwer machen: Die linken Peronisten sind über Gewerkschaften, soziale Bewegungen und Parteistrukturen bis in die kleinsten Gemeinden bestens organisiert und jederzeit in der Lage, Argentinien mit Protesten gegen die neue Regierung lahmzulegen.